Wir sind nicht kriegsfähig (Interview, Die Zeit 39/2001)
"Wir sind nicht kriegsfähig"
Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Bundestages, warnt davor, sich auf die
Denkweise
der Attentäter einzulassen
Von Matthias Geis und Gunter Hofmann (Gesprächsführung)
DIE ZEIT: Die Nato hat nach den Terroranschlägen in New York und
Washington den Bündnisfall erklärt. Sie haben ihre Skepsis angemeldet.
Halten Sie das Vorgehen der Nato für falsch?
Antje Vollmer: Wenn die USA uns in einer solchen Situation bitten, den
Bündnisfall zu erklären, haben wir keine Möglichkeit abzulehnen. Ich habe
mich in der Fraktion enthalten, weil ich ankündigen wollte, dass ich
militärischen Konsequenzen, die sich aus der Erklärung des
Bündnisfalles ergeben, auf keinen Fall zustimmen werde.
DIE ZEIT: Bedeutet das, dass Sie eine militärische Antwort auf den
Terrorangriff prinzipiell ablehnen?
Vollmer: Ich sehe den riesigen Erwartungsdruck der amerikanischen
Gesellschaft auf ihre Regierung, diese fundamentale Verletzung zu
vergelten. Aber wenn ich mir nüchtern überlege, ob es irgendeine
militärische Vorgehensweise gibt, die diese Form des Terrorismus
entscheidend schwächt, dann sage ich: Nein, leider nicht. Statt mit
martialischer Rhetorik Vergeltungserwartungen zu bedienen, muss sich
die Politik ehrlich machen.
Sie muss sagen, dass wir eine ganze Zeit lang mit dieser Bedrohung
leben müssen, dass aber zugleich die Kräfte aufgebaut werden, die mit
solchen terroristischen Sekten fertig werden können. Gleichzeitig bedarf
es einer
neuen, international koordinierten Außenpolitik, die den Nährboden aus
Ohnmacht, Verzweiflung und Demütigungen zu beseitigen beginnt, der
diesen Sekten ihren Nachwuchs zuführt. Ich sehe keine schnelle,
erfolgversprechende militärische Lösung.
DIE ZEIT: Sie scheinen damit eine Mehrheitsstimmung auszudrücken.
Aber heißt das nicht doch, die Amerikaner vorzuschicken?
Vollmer: Dieser Verdacht trifft nur dann zu, wenn man glaubt, dass es
militärische Mittel zur Lösung des Problems gibt und dass die USA das
jetzt
für uns erledigen sollen. Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Die militärische
Reaktion fördert das Entstehen von neuem Terrorismus. Ich sage nicht,
wir sollen uns heraushalten, sondern ich wünschte, die Amerikaner
würden die völlige Erfolglosigkeit eines solchen Vorgehens
berücksichtigen - siehe das Beispiel der Russen in Afghanistan und
Tschetschenien.
DIE ZEIT: Was macht Sie so sicher, dass es keine angemessene
militärische Reaktion geben kann?
Vollmer: Wir suchen nach einer Bombe im globalen Heuhaufen, selbst
wenn wir alle Täter und Tätergruppen identifiziert hätten. Es ist sehr
ernüchternd,
sich die Beispiele anzusehen, wo versucht wurde, solche Konflikte mit
einer Vergeltungsstrategie zu befrieden. Das gilt für den Nahen Osten
genauso wie für Nordirland. Ich habe keinen Zweifel, dass die Täter, wer
auch immer sie sind, einen zivilisatorischen Krieg gegen Amerika und den
Westen führen wollen. Aber wir spielen ihnen in die Hände, wenn wir den
Terroranschlag als einen Kriegsangriff auf die ganze westliche Zivilisation
werten und nun den Kreuzzug des Guten gegen das Böse ausrufen. Auch
das ist eine fundamentalistische Weltsicht.
DIE ZEIT: Ist das nicht die Rhetorik der ersten Stunde, die dem Schock
über diesen ungeheuerlichen Anschlag geschuldet ist?
Vollmer: Das verstehe ich, aber man muss davon wegkommen, weil in
dieser Art totaler Polarisierung das Feld, in dem politische Lösungen
entstehen - durch Vernunft, Analyse und differenzierte Bündnisbildung -
verschwindet. Man fällt in ein archaisches Reaktionsmuster zurück. Aber
diesen Gefallen dürfen wir den Attentätern nicht tun.
DIE ZEIT: Was ist das Neue der terroristischen Herausforderung, das sich
in den Anschlägen zeigt?
Vollmer: Wir haben es mit einem global operierenden Terrorismus zu tun,
einer Art weltweitem Partisanenkrieg mit totalitären, aber modernen
Mitteln. Das heißt, der Gegner ist nicht identifizierbar, es gibt keine Regeln
zum
Schutz der Zivilbevölkerung, es gibt niemanden, der den Krieg erklärt, es
gibt infolgedessen auch niemanden, der ihn beenden kann, und es gilt,
dass jeder nach seinem Gefühl von Hass, Ohnmacht und Gerechtigkeit
agieren kann. Man hat es mit Gruppierungen zu tun, die wie Sekten
organisiert sind. Alles, was man über Bin Laden hört, trifft darauf zu: Er
beruft Kinder,erzieht sie in einer Welt der Gehirnwäsche mit klaren,
religiös aufgeheizten Feindbildern. Sie werden über Jahre scharf gemacht
zu genau den menschlichen Bomben, die wir jetzt erlebt haben.
DIE ZEIT: Und die detonieren über den symbolisch aufgeladensten Orten
Amerikas und damit des Westens insgesamt.
Vollmer: Das Symbol der attackierten Skyline verstehen übrigens auch die
Chinesen, alle, die sich auf diesen Weg der Modernisierung begeben
haben. Aber gerade weil das so ist, liegt ja die wirkliche Schwierigkeit des
amerikanischen Präsidenten darin, dass er jetzt zu etwas sehr Starkem
greifen muss, um diese mentale Zerstörung ausgleichen zu können. Und
ich sage nüchtern, er wird dieses ganz Starke nicht finden. Wenn man
träumen dürfte, würde man sagen, die Amerikaner müssen dem
Erwartungsdruck widerstehen, sie müssen sich Zeit nehmen, darüber
nachzudenken, was ihnen zugestoßen ist und warum. Das würde alle
überraschen. Das wäre ein Schritt weg von der drohenden Kriegsspirale
und vielleicht der Beginn einer veränderten Außenpolitik.
DIE ZEIT: Glauben Sie nicht, dass die Nato-Partner Einfluss nehmen
können?
Vollmer: Da bin ich skeptisch. Wir wissen aus dem Kosovo-Krieg, dass
wir nie wirklich informiert waren. Die Hoffnung, weil wir im Bündnis mit
den Amerikanern sind, hätten wir auch umgekehrt eine Bindewirkung für
das, was sie militärisch unternehmen, teile ich nicht. Es ist sicher eine
Erfahrung des Balkan-Krieges, dass die Europäer erkannt haben, sie
müssen gemeinsam agieren, wenn sie auch nur ein minimales bis
mittleres Gewicht einbringen wollen. Die Europäer stehen vor der Aufgabe
gemeinsamer Willensbildung. Und sie werden dabei die Stimmung in
ihren Gesellschaften berücksichtigen ...
DIE ZEIT: ... der Gesellschaften, die im Hinblick auf militärische Aktionen
sehr zurückhaltend reagieren.
Vollmer: Während die amerikanische Bevölkerung schnelle und
umfassende Vergeltung fordert, gibt es dafür in unseren Gesellschaften
keine Mehrheit. Ich glaube, dass wir sehr schnell eine Debatte brauchen,
in der klar wird, welche Reaktion als angemessen empfunden wird.
DIE ZEIT: Liegt die unterschiedliche Reaktion der Bevölkerung nicht
daran, dass es Amerika und nicht uns getroffen hat?
Vollmer: Nein, gerade die Tiefe des Mitgefühls hat die Gewissheit
ausgedrückt, es könnte morgen auch uns treffen - und zugleich den
Wunsch, wir möchten anders reagieren. Das Geheimnis von wirklich guter
Freundschaft ist, in der Not ganz dicht bei den Freunden zu bleiben, aber
im Kopf Distanz zu halten. Distanz bedeutet, dass wir, die wir zunächst
nur mittelbar betroffen sind, heute die Frage stellen: Was wird daraus in
drei, vier Monaten? Und dazu gehört auch eine klare Analyse, was die
eigenen Gesellschaften zu tragen bereit sind. Und da sage ich, alle
europäischen Gesellschaften sind eigentlich nicht kriegsfähig. Sie sind
vielleicht fähig, Katastrophen zu ertragen und Trauer zu verarbeiten, aber
sie sind nicht in der Lage, Kriege gegen unbekannte Gegner dieser
Brutalität zu führen.
DIE ZEIT: Wo muss eine politische Strategie ansetzen?
Vollmer: Ich kann nur Elemente nennen. Das erste wäre sicher: Nie wieder
darf irgendein westlicher Staat eine dieser Gruppen im Entstehen
unterstützen, nur weil er glaubt, dass es ihm kurzfristig nützt. Im Irak, bei
der UÇK, bei den Taliban selbst finden wir den Zauberlehrlingseffekt aus
früherem Fehlverhalten. Das zweite wäre, die Globalisierungsfolgen
wirklich ernst zu nehmen, das heißt, Genua und New York
zusammenzudenken. Wir müssen drittens darüber diskutieren, ob auf
Dauer ein unilaterales Modell wirklich erfolgreich sein kann. Gegen
unilateralistische Mächte bilden sich - wie die Geschichte zeigt - immer
Gegenpole. Viertens muss es für stark gekränkte Kollektive eine legale
Adresse geben, beispielsweise einen internationalen Gerichtshof für
Minderheitenfragen, der Menschenrechts- und Minderheitenfälle zur
Anklage bringt. Denn es sind diese ungelösten Konflikte, aus denen der
Terrorismus seine tödliche Energie zieht.
DIE ZEIT: Es ist unwahrscheinlich, dass der Westen ausschließlich
politisch reagieren wird. Gibt es eine Mittellinie zwischen einer rein
politischen Strategie und einer Eskalationsspirale?
Vollmer: Dass es eine militärische Reaktion geben wird, damit rechnet
jeder. Ich wäre schon froh, wenn es gelingen würde, die Atommacht
Pakistan herauszuhalten oder zu verhindern, dass Israel im Schatten
eines Krieges seine Fronten bereinigt. Dann hätten wir es für die nächsten
fünfzig Jahre mit einer zu allem entschlossenen palästinensischen
Minderheit zu tun. Das wäre die größte Katastrophe, weil wir die
islamischen Staaten dringend brauchen, um jenen Dialog mit den
Fundamentalisten zuführen, den wir mangels gemeinsamer, kultureller
Codes gar nicht führen können. Dafür aber müssen wir diese Staaten aus
der ewigen Gefangenschaft des ungelösten Nahost-Konflikts befreien.
DIE ZEIT: Es ist ein schmaler Grat, auf dem man sich bewegt, wenn man
nach dieser Katastrophe den USA nun rät, kühlen Kopf zu bewahren. Das
wird schnell als antiamerikanisch wahrgenommen.
Vollmer: Natürlich wird der, der jetzt bremst, schnell in die
antiamerikanische Ecke gestellt. Ich glaube aber, dass die Amerikaner
mittlerweile selbst ein Unbehagen an ihrer alleinigen Supermachtrolle
verspüren, mit der sie auch den Hass ganz alleine auf sich ziehen. Es liegt
für Amerika auch eine Chance darin, dass die ganze Welt sich
mitgetroffen fühlt, Russland und selbst China. Das ist ja schon ein Stück
Aufhebung der Isolation. Dass die USA auch über politische und
wirtschaftliche Strategien nachdenken, dass sie nicht gleich
losgeschlagen haben, dass sie ihr Verhältnis zur Uno korrigieren, darin
liegt Hoffnung.
DIE ZEIT: Was bedeutet es denn, dass in dieser Situation eine rot-grüne
Regierung im Amt ist?
Vollmer: Ich glaube, dass sie sowohl den Tendenzen zur innenpolitischen
Überreaktion als auch dem Versuch, diesen Konflikt als Krieg der
Zivilisationen zu interpretieren, begegnen wird.
DIE ZEIT: Kann sie das durchhalten?
Vollmer: Ich hoffe das sehr. Wenn nicht, wird es eine Große Koalition
geben. Aber es gibt noch eine andere Gefahr. Wer formuliert die kritischen
Anfragen, den Widerspruch gegen eine Eskalationslogik? Wir müssen
einen völlig offenen Dialog mit der Bevölkerung führen. Und mit den
© 2015 Dr. Antje
Vollmer